Lipowsky 1811
Kerl, auch Kherl, (Johann Kaspar von):
Kerl, auch Kherl, (Johann Kaspar von), geboren in Obersachsen 1625, kam in früher Jugend als Organist an den Hof des Erzherzogs und nachmaligen Kaiser Leopold des I. der ihm vom Kapellmeister Johann Valentini in Wien Unterricht in der Komposition und im Kontrapunkte geben ließ. Um das Jahr 1649 begab er sich nach Rom, und studirte dort beim Kapellmeister Joachim Carissimi (1), wo er sich zu einem der ersten Orgelspieler und Kompositeurs bildete.
Als den 8. Julius 1658 zu Frankfurt die Wahl, und den 22. Julius darauf die Krönung Kaiser Leopold des I. vor sich gieng, fand sich auch Kerl bei derselben ein, und brachte es durch den Kais. Vizekapellmeister Joh. Andreas Heinrich Schmelzer (2) dahin, daß er dort auf der Orgel vor dem Kaiser spielen durfte, der ihm auch ein Thema zuschickte, das er vierstimmig ausführen sollte.
In Gegenwart des Kaisers, und mehrerer Chur- und andern Fürsten, dann des gesammten Hofstaates phantasirte Kerl prächtig; plötzlich aber begann er des Kaisers Thema, und führte dasselbe anfangs durch alle Tonarten zweistimmig, dann nach dem Uebergang eines kurzen Adagio, drei- dann vier- und endlich mit Hilfe des Pedals fünfstimmig aus. Der Kaiser war entzückt über dieses künstliche Orgelspiel, und alle Anwesenden bewunderten den großen Künstler, als Kerl mit dem Zusatze eines Gegenthemas, einer Verwechslung des geraden Taktes mit dem ungeraden, und mit einer Doppelfuge (3), welche wieder des Kaisers Thema enthielt, seine Zuhörer überraschte, und so bei denselben Enthusiasmus und allgemeinen Beifall über seine Kunst hervorzauberte. Der Kaiser bewilligte ihm hierauf, daß er auch eine Messe von seiner Komposition aufführen dürfte, und da auch diese dem Kaiser sehr gefiel, so belohnte er ihn kaiserlich und erhob ihn noch überdieß in den Adelstand.
Die Churfürsten von Baiern und der Pfalz wetteiferten nun diesem großen Tonkünstler als Kapellmeister in ihre Dienste zu erhalten, und Kerl sagte dem erstern zu, und trat in seine Dienste. Am Hofe des Churfürstens Ferdinand Maria war nun Kapellmeister von Kerl sehr beliebt und geschätzt, und seine Opern, die er an diesem Hofe geschrieben, wurden in München mit ungetheiltem Beifalle aufgenommen. Sie sind folgende: L’Atlanta, 1667; J colori geniali torniamento di Luce, 1669; und L’Erinto, 1671; allein die italienischen Sänger am churbaierischen Hofe konnten es nicht vertragen, daß ein deutscher Kapellmeister sie dirigirte, und fiengen daher zu necken, und gegen ihn Kaballe zu machen an (4). Um ihnen zu zeigen, wie sehr er ihnen an Kunst überlegen seye, und daß sie noch nicht jene Künstler erster Größe wären, als die sie sich prahlten, setzte er eine Musik, worinn ungewöhnliche Intervallen waren, gab den Singstimmen wenig Hilfe durch begleitende Instrumente, und stellte den Sänger dahin, daß jeder mißlungene Ton, jede falsche Intonation auffallend wurde. Als er seinen Zweck erreicht hatte, verließ er München, und gieng nach Wien zurücke, wo er 1677 als Organist an der Stephans-Kirche angestellt wurde, und 1690 gestorben ist. Seine gedruckten Werke bestehen in folgenden: Delectus sacrarum cantionum, et Opus Missarum, 2, 3, 4 et 5 vocum. (Norimb. 1669.) b) Modulatio organica super Magnificat, octo tonis ecclesiasticis respondens. (Monachii 1686.) c) Sechs Missen von ungemeiner Kunst. (Nürnberg 1689.) Sonst sind von seiner Komposition in Manuscripte folgende Kirchenmusiken bekannt: d) Requiem a 5 vocibus, 1669. e) Seine sogenannte schwarze Messe, weil sie mit gefüllten Noten, damals eine Seltenheit, geschrieben ist. f) Ein Konzert für zwei Kastraten, mit einem künstlichen, sich stets bewegenden Generalbaß. g) Trio für zwei Violine und eine Gambe; dann h) Toccaten und Klaviersuiten (5). Karl Gustav ab Amling hat das Portrait des Kapellmeisters Kerl nach der Natur in Quartformate in Kupfer gestochen.
Anm. 1: Er stand um das Jahr 1649 als Kapellmeister bei der päbstlichen Kapelle, und am Kollegium zu Rom. Brown, Bonnet, Laborde, Mattheson und Galuppi wetteifern seine Verdienste zu erheben, und ihn als den ersten Kompositeur anzurühmen. Carissimi war auch der Lehrer eines Cesti, des ältern Scalatti, des Bassani, Buononcini u. s. w. Die Italiener eignen ihm die gegenwärtige Einrichtung des Recitatives zu, das Jakob Peri und Monteverde vor ihm, aber sehr unvollkommen, erfunden hatten. Carissimi verbesserte es dadurch, daß er demselben einen leichtern und fließenden Gesang gab, und dasselbe dem Accente der natürlichen Deklamation näher brachte; er war der Erste, der dem damaligen noch steifen und schwerfälligen Basse einige Bewegung und Figuren gab, welche Idee in der Folge Corelli mit so vielem Glücke benützte, und fügte ebenfalls zuerst seinen Motetten, die er in der Kirche absingen ließ, eine Instrumental-Begleitung bei. Der Stil seiner Kirchenmusiken soll sanft und fliessend, aber doch edel und erhaben gewesen seyn.
Anm. 2: Er war aus Oesterreich gebürtig, und um 1655 bei der Kais. Kapelle zu Wien angestellt, anfangs als Instrumentalist, dann als Vizekapellmeister. Kaiser Leopold I. schätzte ihn so sehr, daß er ihn in den Freiherrstand erhob. Er lebte noch 1695, und gab 1662 zu Nürnberg XIII Sonaten für verschiedene Instrumente, dann XII Violin-Solo gestochen heraus.
Anm. 3: Werden in einer Fuge zwei oder mehrere Hauptsätze verbunden, die sich theils einzeln, theils unter einander vermischt, hören lassen, so nennt man sie eine Doppelfuge.
Anm. 4: Der Churfürst wollte ihm mehr Ansehen verschaffen, indem er ihm die Würde eines Rathes verlieh; allein auch dieser achteten die italienischen Sänger nicht. Seit dieser Zeit wurde es indessen am baierischen Hofe üblich, daß ein Kapellmeister allzeit den Titel eines Rathes erhielt.
Anm. 5: Suite. Mit diesem Worte bezeichnete man ehedem eine sehr beliebte Art Tonstücke für das Klavier, und auch für andere Instrumente, die z. B. aus einer Allemande, Courante, Sarabande, und Gigur bestand, wobei die Allemande, als eine deutsche Erfindung, den übrigen vorgesetzt war. Gegen die Mitte des Vorigen Jahrhunderts verwandelten sich die Suiten in Parthien, welch letztere ausser den Tanzmelodien auch ein Allegro, Andante, und Presto hatten. Aber auch diese Parthien sind nun ausser Mode gekommen, und der Name Parthie (Parthia, oder Partita) wurde einer Sammlung Musikstücke für Blasinstrumente beigelegt. Matthesons vollkommener Kapellmeister Th. II. Hptst. 13. J. J. Rousseau in seinem Dictionnaire de Musique versteht unter Suite eine Sonate. p. 451 et 455.