Matthäus Spieß, dessen Taufe unter dem Datum des festo S. Barth[olomaei] des Jahres 1683 eingetragen wurde, also am 24. August, wuchs als jüngstes von neun Kindern des Weber-Ehepaars Thomas (1642-1724) und Barbara Spieß, geborene Miller (1639-1727), im schwäbischen Honsolgen auf. Sein Vater arbeitete neben dem Weberberuf auch als Lehrer, Organist und Metzger. 1695 wurde der gerade zwölfjährige Sängerknabe in die Lateinschule des nahegelegenen Benediktinerklosters Irsee aufgenommen und nach fünfjähriger Schulzeit zur weiteren Ausbildung in das Kloster Ottobeuren gesandt.
Nach seiner Rückkehr in das Reichsstift Irsee trat Spieß am 12. November 1701 in den Konvent der Benediktiner ein, legte genau ein Jahr später die Profess ab und nahm den Ordensnamen Meinrad an. Weitere philosophische Studien unter P. Wolfgang Feßenmayr schlossen sich an. Die Weihen zum Subdiakon, Diakon und Priester empfing er 1706 und 1707 in Irsee und Augsburg. Am 8. Januar 1708 feierte er im eigenen Konvent seine Primiz.
In den Jahren 1709 bis 1712 hielt sich Spieß als Kompositionsschüler des Hofkapellmeisters Giuseppe Antonio Bernabei in München auf. Die näheren Umstände dieses Aufenthalts und Unterrichtsverhältnisses sind angesichts der Auflösung des Münchner Hofes unter der österreichischen Besatzung während des Spanischen Erbfolgekriegs völlig unbekannt. 1713 kehrte Spieß in das Kloster Irsee zurück und übernahm die Funktion des Chordirektors, die er bis etwa 1750 behielt, ehe er sie Anselm Schwink übergab. Daneben übernahm er im Konvent zeitweise auch die Ämter des Subpriors, Ökonoms, Pfarrvikars und Novizenmeisters in mehrfachem Wechsel. Als höchstes Amt bekleidete er jeweils ab 1716, 1735, 1746 und 1760 das Priorat. Im fortgeschrittenen Alter konnte Spieß 1752 seine Jubelprofess und 1758 das 50jährige Jubiläum seiner Priesterweihe feiern.
Obwohl Spieß dank der weiten Verbreitung seiner Kompositionen bereits zu Lebzeiten erstmals Aufnahme in ein musikalisches Lexikon fand (WaltherL 1732), ist die Bandbreite seines Wirkens nur schemenhaft bekannt: Zu den Aufgaben eines klösterlichen Musikdirektors gehörte damals die tägliche liturgische Praxis in der Vokal-, Instrumental- und Orgelmusik, ferner die Komposition geistlicher Werke, die Musikpädagogik und die bedarfsbedingte Gutachtertätigkeit.
Spieß listet in einem eigenen Werkverzeichnis, das 1745 und 1746 mehrfach gedruckt wurde, acht Drucke mit Opusnummern auf, wenige weitere Werke sind handschriftlich überliefert. Sie waren primär für den Gebrauch von Klöster, Kirchen und Schulen bestimmt. Nach eigener Aussage strebte Spieß in seinen Werken eine Synthese aus dem strengen kontrapunktischen Satz seines Lehrers Bernabei und der modernen Schreibart an (Tractatus 1745, S. 161); eine differenzierte Untersuchung von Stil und Kompositionstechnik seiner Werken steht jedoch noch aus. Er gehört damit der letzten Komponistengeneration an, die vor dem Aufkommen der Orchestermusik kleinbesetzte barocke Instrumentalwerke schuf.
Die deutschsprachige Kompositionslehre Tractatus musicus compositorio-practicus (1745) muss als Hauptwerk von Spieß angesehen werden. Mit diesem an die Lehrlinge der musicalischen Composition gerichteten allgemeinverständlichen Kompendium unterrichtete er mehrere Benediktiner des eigenen und benachbarter Konvente: Simpert Schmelz, Raphael/Ulrich Weiß, Willibald Klöck und Anselm Schwink, alle aus Irsee, Nikolaus Meichelbeck aus Ottobeuren und Martin Haugg aus Möchsdeggingen. 1719 komponiert Spieß die Musik für ein Schultheater (Das alte und neue Teutschland) der Kaufbeurer Jesuiten, von 1719 bis 1740 ist er in der dortigen Stadtpfarrkirche St. Martin wiederholt als Sänger belegt.
In Orgel- und Glockensachen wurde Spieß mehrfach als Sachverständiger zu Rate gezogen: 1725 bei der vorhandenen Irseer Orgel, 1749-1750 und 1752-1754 beim Neubau einer Chor- und einer Hauptorgel dort (beide von Balthasar Freiwiß), 1757 schließlich beim Bau einer Orgel in der Klosterkirche Ottobeuren (von Karl Joseph Riepp). 1755 war Spieß an der Planung des neuen Geläuts in der Irseer Kirche beteiligt, dessen sieben Glocken von Anton Grieshaber gegossen wurden.
Innerhalb der niederschwäbischen Benediktiner-Kongregation vertrat Spieß den Irseer Konvent bei den Kapiteln in Ottobeuren (1728), Neresheim (1732) und Elchingen (1741). 1748 nahm er an der Benediktion des Kemptener Fürstabtes Engelbert von Syrgenstein teil.
Auf Spieß’ individueller Neigung beruhte ab 1743 seine Mitgliedschaft in der Correspondierenden Societät der musikalischen Wissenschaften, einem bis 1756 aktiven Zirkel vorwiegend norddeutsch-protestantischer Musikgelehrter, aus deren Reihen er u. a. mit dem Sekretär Lorenz Mizler sowie mit Georg Andreas Sorge, Carl Heinrich Graun oder Heinrich Bockemeyer brieflichen Kontakt pflegte. Darüber hinaus kommunizierte er auch mit Leopold Mozart, Friedrich Wilhelm Marpurg und mehreren Verlegern.
Die Herkunft seiner Schüler, die Druckorte (Augsburg, Kempten, Konstanz, Mindelheim) und Widmungsträger seiner Kompositionen sowie die Kontakte innerhalb des schwäbischen Benediktiner-Netzwerks zeigen den Wirkungsradius von Spieß im katholischen Kulturraum von Süddeutschland, Österreich und der Schweiz. Die Korrespondenz innerhalb der Mizlerschen Sozietät verschaffte ihm jedoch als einem der wenigen Angehörigen seines Berufsstandes in Fragen der Musiktheorie und Komposition auch Gehör und Beachtung in Mittel- und Norddeutschland – über die Konfessionsgrenzen hinweg.